„Bauen im Dialog” – Chestnutt_Niess Architekten im Interview

Architekten.de Redaktion     |     Aktualisiert am: 9. Dezember 2020
Lesezeit:  Minuten

Schwerpunkt Wohnbau

Welche Philosophie verfolgen Sie in der Zusammenarbeit mit Ihren Bauherren? Welches Ziel verfolgen Sie dabei?

Wirklich gute Architektur sieht nicht nur gut aus, sondern sie muss nutzbar sein und durch die Nutzung Freude bringen. Diese Art des Bauens kann nur im Dialog zwischen dem Auftraggeber und dem Architekten entstehen. Wichtig dabei ist: Der Architekt/die Architektin muss nicht nur einen Dialog mit dem Bauherrn führen, sondern auch mit dem Ort und mit der Nutzung. Als weitere wichtige Faktoren kommen der Zeitplan, das Budget, die Bauweise, das Thema Nachhaltigkeit und das Altern der Materialien sowie die Veränderungen, die mit der Zeit entstehen, hinzu. Das alles sind Bausteine eines guten Gebäudes. Und wenn das alles zusammenpasst, dann kann Architektur unglaublich viel Spaß machen. Das geht aber nur, wenn man konstruktiv zusammenarbeitet.

Kommt es dennoch häufig vor, dass während der Bauphase noch Änderungswünsche auftreten?

Das haben wir ehrlich gesagt nicht so oft, aber natürlich kommt das vor. Wir arbeiten in der Regel mit physischen Modellen, um dem Bauherrn schon frühzeitig einen guten Eindruck von dem Gebäude zu geben. 3D-Animationen verwenden wir auch, aber sie können sehr verführerisch sein. Oft entwickeln die Bauherren damit keine richtige Vorstellung von dem späteren Projekt, weil sie nicht gelernt haben, diese Bilder zu deuten. Das kann zu falschen Erwartungen und zu Enttäuschungen führen.

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Einer Ihrer Schwerpunkte ist das Bauen im Bestand? Welchen Reiz hat diese Bauaufgabe für Sie?

Ein Bestandsgebäude hat immer eine eigene Geschichte zu erzählen, die man sprechen lassen sollte. Das hat mit Menschen, mit Geschichte und mit Kunstgeschichte zu tun. Entsprechend vielfältig ist die Bauaufgabe, das inspiriert uns.

Welche Herausforderungen stellen öffentliche Bauwerke?

Ein wichtiges Ziel für uns ist, dass unsere Bauherren und die Nutzer das Gebäude auch Jahre nach der Fertigstellung noch lieben. Bei der von uns realisierten Bibliothek im Luisenbad in Berlin, in Wildau oder bei vielen anderen unserer Bauten ist uns das gelungen. Hier identifizieren sich die Nutzer bis heute mit dem Haus. Ansonsten aber unterliegen öffentliche Bauten in der Regel großen Sparzwängen. Außerdem werden die Freiheiten durch zunehmende Normen immer weiter eingeschränkt. Das gilt insbesondere auch für den Schulbau. Dabei gäbe es hier viel Nachholbedarf, denn viele Schulen sind in einem sehr schlechten Zustand. Außerdem gibt es viele neue pädagogische Entwicklungen, insbesondere aus Skandinavien, die sich auch in einer veränderten Architektur widerspiegeln müssten.

Was zeichnet einen modernen Firmensitz aus? Welche Ansprüche sollten Unternehmen für ihr Verwaltungsgebäude haben?

Um die Jahrtausendwende gab es den Trend weg vom Zellenbüro zu möglichst großen, fließenden Raumfolgen. Heute sind eher flexibel nutzbare und zusätzlich auch undefinierte Räume gefragt.

Welche Anforderungen stellen sich an den modernen Industriebau? Wo liegen die aktuellen Trends?

Der Bereich ist sehr stark durch finanzielle Zwänge geprägt, aber auch hier wird eine „Identität“ gesucht. Entsprechend kommen häufig Fertigsysteme zum Einsatz. Das ist dennoch gut so, aber man muss wissen, sie gut einzusetzen, um eine sinnvolle Gesamtgestaltung im Sinne einer Corporate Identity zu erreichen. Oft können wir aber auch eigene individuelle Lösungen entwickeln, die manchmal sogar günstiger sind.

Wie ist das Thema Nachhaltigkeit im Bewusstsein der Bauherren verankert?

Der Begriff ist sehr vielschichtig. Und leider ist er in den vergangenen Jahren immer mehr zu einer Worthülse verkommen. Für uns ist Nachhaltigkeit das, was lange währt, ökologisch sinnvoll ist und uns in Zukunft nicht belastet, was sich also wieder umnutzen oder – wenn es sein muss – umweltfreundlich entsorgen lässt. In der Praxis wird Nachhaltigkeit dagegen oft auf Herstellernachweise, Gütesiegel, Dämmstärken und eher technische Lösungen beschränkt. Entsprechend verbinden die meisten Bauherren das Thema mit dem Haustechniker und weniger mit dem Architekten. Das ist ja auch nicht grundsätzlich falsch, aber eben nur ein Teil der Lösung. Denn was passiert zum Beispiel mit den ganzen Dämmmaterialien in zwanzig Jahren, wie lassen sie sich entsorgen? Denn manche Dämmmaterialien oder Energiesparlampen sind in Wahrheit Sondermüll. Wichtig ist für uns stattdessen eine ganzheitliche Betrachtung des Themas.

Wie lassen sich Gebäude besonders energieeffizient gestalten?

Wichtig sind für uns vor allem passive Low-Tech-Ideen. Technologie und High-Tech stehen dagegen erst an zweiter Stelle.

Wie sieht eine moderne Wärmeversorgung aus?

Da gibt es verschiedene Systeme wie Holzpellets oder Geothermie. In Köln planen wir gerade einen Schulbau, bei dem Solarthermie eingesetzt wird. Bei unserer Sporthalle im Hausburgviertel in Berlin haben wir dagegen eine Low-Tech-Lösung eingesetzt. Die warme Abluft aus den Wasch- und Duschräumen erzeugt hier einen Unterdruck, der die Frischluftversorgung der gesamten Sporthalle über ein ausgeklügeltes Luftnachtstromsystem sicherstellt. Über eine Wärmerückgewinnungsanlage wird die erwärmte Abluft zusätzlich zur Beheizung der Halle eingesetzt. Einfach, robust und effizient, das zahlt sich aus.

Welche Tendenzen sehen Sie bei der Innenraumgestaltung von Gebäuden?

Jede Architektur ist ein Unikat, deren Qualität spezifisch für den Ort und die geforderte Nutzung geschaffen wurde. Daran knüpft sich auch die Frage der Innenraumgestaltung als ganzheitliche Gestaltung an. Wir haben das Glück, häufig auch mit der Innenarchitektur beauftragt zu werden und konnten über die Jahre einige Erfahrung damit sammeln. Ich kann mir Architektur nur als Außenhülle schwer vorstellen. Bis in die 1960er-Jahre hinein gab es wunderbare Innenarchitekturen. Heute haben die Bauherren Gott sei Dank wieder weniger Angst vor gestalteten Innenräumen als noch in den 1970er- und 1980er-Jahren. Damals gab es den großen Wunsch, von innen nach außen zu planen, aber dem Innenraum dabei keine besondere Wertigkeit zu geben. Der Raum selbst blieb dabei oft auf der Strecke.

Welche Anforderungen stellen sich heute an den Brandschutz?

Der Bereich Brandschutz ist heute so komplex geworden, dass wir bei fast jedem Projekt einen Brandschutzbeauftragten hinzuziehen. Das gilt für größere Bauwerke, aber auch für kleinere öffentliche Projekte wie Kindergärten etc. Früher ließen sich die Brandschutzanforderungen dagegen an einem Nachmittag in einem Gespräch mit der Feuerwehr umsetzen. Diese Zeiten sind vorbei.

Welche Bauweise bietet das größte Zukunftspotenzial?

Großes Potenzial sehen wir vor allem beim Holzbau. Holz ist ein wunderbares Material, das einerseits nachhaltig ist und andererseits große Möglichkeiten bei der Vorfertigung bietet. Beim Massivbau trifft man oft Bauarbeiter, die kein Verhältnis mehr zu ihrem Material haben, das ist beim Holzbau in der Regel anders, da gibt es eine ganz andere Identifikation, die noch im Handwerk verankert ist. Deshalb gehen alle Beteiligten auch anders mit dem Material um. Als negative Aspekte der Leichtbauweise mit Holz sehen wir lediglich die geringe Speicherfähigkeit und die erhöhten Brandschutzauflagen, insbesondere bei höheren Gebäuden.

Das Unternehmensgebäude als Teil der Nachhaltigkeitsstrategie: Welches Potenzial bieten Siegel und Zertifikate zum nachhaltigen Bauen?

Da bin ich eher skeptisch, wenn ich sehe, dass selbst Casinos und Hochhäuser in Las Vegas die höchsten Auszeichnungen für Nachhaltigkeit bekommen. Oftmals scheint es hier eher um einen Brief zu gehen als um echte Nachhaltigkeit. Hier ist leider eine Menge Politik und Firmenlobbyarbeit anzutreffen. Das soll uns aber nicht davon ablenken, dass es zu den Uraufgaben der Architektur gehört, mit dem Ort, mit den Materialien und mit den Ressourcen schonend und klug umzugehen.

Schwerpunkt Nicht-Wohnbau

Was zeichnet ein modernes privates Eigenheim aus? Wo liegen die aktuellen Trends?

Das hängt natürlich stark vom Bauherren ab. In letzter Zeit bin ich immer wieder begeistert von kleinen und jedenfalls nicht „protzigen“ Häusern. Unabhängig davon muss ein Haus aber immer einen Ort bilden, an dem man sich gerne aufhält, an dem man sich geborgen fühlt und an den man gerne wieder zurückkehrt. Das ist uns ganz wichtig. Für uns als Architekten ist es eine wunderbare Aufgabe, ein Einfamilienhaus zu entwerfen und zu bauen; die Bauaufgabe spricht die Wurzel der Architektur an, nämlich das Wohnen. Das war schon immer und ist auch heute eine zentrale Frage der Architektur, die sich jedes Mal neu beantworten lässt und die ein tolles Experimentierfeld bietet, neben Altbewährtem auch Neues auszuprobieren.

Wie lassen sich hochwertige Gestaltung und Bezahlbarkeit harmonisch vereinen?

Hochwertige Gestaltung hat eigentlich nichts mit einer teuren Bauweise oder mit teuren Materialien zu tun. Was aber wirklich teuer werden kann, das ist ein falscher Geschmack; oder die fehlende Disziplin, sich auf das Wesentliche zu beschränken.

In welchen Bereichen sollten Bauherren auf keinen Fall sparen?

Als grundlegende Basis betrachten wir einen klugen Materialeinsatz und eine gute Verarbeitung im Zusammenspiel mit einem stimmigen Raumkonzept. Das zahlt sich immer aus!

Was zeichnet ein modernes Mehrfamilienhaus aus?

Ein wichtiger Aspekt ist insbesondere eine positive Identifikation mit dem Wohnhaus als Wohnort. Das gesamte Haus sollte also in gewisser Weise als das eigene Zuhause verstanden und erlebt werden. Das beginnt schon mit der Zuwegung von der Straße und mit dem Eingangsbereich, der hochwertig und mit robusten Materialien gestaltet sein sollte. Gemeinsame Bereiche, die funktionieren, sind etwas Wunderbares – denken Sie einfach an ein richtig schönes Treppenhaus oder auch an einen gemeinsamen Garten. Die Wohnungen selbst müssen klug und räumlich schön sein und außerdem Flexibilität für die unterschiedlichen Bedürfnisse der verschiedenen Altersstufen der Bewohner bieten. Ebenso wichtig ist es, dass die Bewohner ihre Privatsphäre haben. Hier ist der Einfluss von uns Architekten im Mehrfamilienhaus allerdings begrenzt.

Welche aktuellen Entwicklungen sehen Sie in diesem Bereich?

Eine interessante aktuelle Entwicklung ist das Mehrgenerationen-Wohnen. Eine Herausforderung ist hier die Gestaltung von halböffentlichen Bereichen vor der Eingangstür, zum Beispiel durch die Gestaltung von verbreiterten, kollektiv nutzbaren Erschließungsbereichen mit Sitzbänken oder anderen gemeinschaftsfördernden Elementen. Auch das Genossenschaftswohnen sowie neue Tendenzen zur neu interpretierten Wohngemeinschaft sind sehr spannend. Da kann noch eine Menge passieren.

Welche Bedeutung hat die altengerechte oder barrierefreie Gestaltung von Mehrfamilienhäusern?

Das ist ein wichtiger Bereich des Entwerfens, gerade vor dem Hintergrund unserer älter werdenden Gesellschaft. Anders als früher bedeutet „Barrierefreiheit“ inzwischen weit mehr als nur Stufenlosigkeit, sondern es geht um vieles mehr – zum Beispiel um die Schaffung von flexibel nutzbaren Wohntypologien, in denen wir im Alter gern und gesund leben können.


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